Salutogenese und Schuldzuweisungen
Es gewinnt der Dämon, den Du fütterst!
Was passiert, wenn Menschen von Schicksalsschlägen oder großen Verunsicherungen heimgesucht werden? Wie gehen sie damit um? Wenn wir mal spaßeshalber an die einschlägigen Katastrophenfilme denken, dann finden wir dort die ganz typischen Rollenverteilungen:
- Die Retter und Helden,
- die schützenswerten, unschuldigen, oft hilflosen Opfer,
- diejenigen, die rechtzeitig warnen, aber nicht gehört werden,
- diejenigen, die versuchen, Profit aus allem zu schlagen,
- diejenigen, die das Chaos nutzen, um ihre niederträchtigen Gesinnungen auszuleben,
- die völlig Entgleisten, die einfach nur durchdrehen, rennen, schreien, kopflos noch mehr Chaos anrichten
- und diejenigen, die sehr früh schon Schuldige suchen und finden.
Selbst bei Vulkanausbrüchen und Erdbeben (also jetzt im realen Leben), die ja nun wirklich nicht menschengemacht sein können, folgt unweigerlich eine Welle von wütenden Vorwürfen gegenüber scheinbar Verantwortlichen. Die Seismologen hätten früher warnen oder besser arbeiten müssen (egal ob man jetzt von Seismologie Ahnung hat, oder nicht, - „aber wofür werden denn solche Leute bezahlt“?), die Architekten hätten stabilere Häuser bauen müssen (egal welches Budget zur Verfügung stand), die Regierung hätte viel eher evakuieren müssen – oder auch wahlweise: Sie hätten die Evakuierung unterlassen müssen, denn schließlich war das Erdbeben ja gar nicht so schlimm.
Leiden erzeugt eine Suche nach Schuldigen
Auch bei ganz persönlichen Schicksalsschlägen werden Schuldige gesucht. Je größer der Schmerz ist und je schwieriger die Folgen zu bewältigen sind, desto eher wird voller Wut ein Schuldiger benannt.
„Wenn er sie nicht immer falsch behandelt hätte, wäre sie nicht krank geworden!“
„Wenn Du ihm diese Vorwürfe nicht gemacht hättest, dann hätte er keinen Herzinfarkt bekommen!“
Sehr häufig wird Ärzten für dramatische Krankheitsverläufe die Schuld zugewiesen.
Und natürlich können alle diese Vorwürfe auch wahr sein. Gemeinsam ist diesen Schuldzuweisungen im Affekt aber, dass es nicht sicher, ja noch nicht einmal annähernd sicher ist, ob der Vorwurf eine begründete, realistische Basis hat.
Dort, wo man sowieso schon persönliche Feindbilder hat (bestimmte Menschen im persönlichen Umfeld, Politiker, ethnische Gruppen, arme oder reiche Menschen, bestimmte Berufsstände, Männer, Frauen, Führungskräfte etc.), schiebt man diesen, falls sie sich im Umfeld der Katastrophe befunden haben, sehr schnell die Schuld zu.
Aber warum machen Menschen das? Warum suchen sie mit solchem Eifer Schuldige?
Ein Schmerzmittel für die Gefühle
Schuldzuweisungen lenken vom eigenen Schmerz, von der Angst und der Verunsicherung ab. Das Klagen und Anklagen ist ein starkes Ventil für überbordende Gefühle. Dorthin kann all die Energie kanalisiert werden, die durch das Leid und die Sorge entsteht.
Menschen möchten sich nicht gern ihrem eigenen Schmerz, ihrer Angst und Verunsicherung stellen. Die Gefühle sind zu stark, zu übermächtig. Die wenigsten von uns haben von klein auf gelernt, sich mit starken Gefühlen und mit den Folgen von Schocks oder echten Gefahren auseinanderzusetzen. Die Emotionen drohen einen zu überwältigen. Wir brauchen gleichsam ein schnell wirksames Schmerzmittel, denn wir meinen, das nicht aushalten zu können. Die Spannung wird zu stark. Und das Schmerzmittel für die Seele ist dann, einen oder mehrere Schuldige ausfindig zu machen und nach Wiedergutmachung und Vergeltung zu rufen oder selbst Rache zu nehmen.
Die schlimmste Blüte dieser Gefühlslage ist die Selbstjustiz. Im Affekt bestrafen oder töten Menschen den erstbesten „Schuldigen“, ohne den Sachverhalt zu prüfen.
Schicksalsschläge als Beweise
Schicksalsschläge eignen sich ganz besonders gut dazu, einen Feind, den wir schon lange mit uns herumschleppen, endlich bloßzustellen. Je schicksalhafter das Geschehen ist, desto einfacher können wir scheinbare kausale Zusammenhänge zu unseren persönlichen Feinden herstellen. Auch das ist ein Schmerzmittel für unsere schon lange bestehenden Gefühle des Unterdrückt- oder Ausgebeutet Werdens.
Der Nachteil an diesem „Schmerzmittel“ ist, dass man in der Opferrolle bleibt, die seelische Verletzung nicht heilen kann und man sich in einer destruktiven Schleife befindet. Alles Streben wird auf den Kampf gegen den Schuldigen gerichtet. Man steigert sich in einen vermeintlichen Heldenmut hinein und hat sogar das Gefühl, für eine ehrenhafte Sache einzustehen oder gar im Auftrag von Gott zu handeln.
„Gott will es!“ brüllten die Kreuzfahrer in vielen Sprachen und richteten Schlachtfelder an. Denn die Heiden waren an allem schuld. Auch heute noch sehen wir auf dieser Welt viele Bewegungen, die mit Waffengewalt vermeintlich im Auftrag Gottes handeln. Am Ende ist das nichts anderes, als die extreme Blüte am Ende einer langen Kette von Schuldzuweisungen.
Der Verantwortung ausweichen
Jede/r von uns ist selbst dafür verantwortlich, was ihr oder ihm passiert. Das bedeutet nicht, dass wir selbst die Auslöser von Schicksalsschlägen sind (jedenfalls nicht unmittelbar – wenn wir mal an den Klimawandel denken), sondern dass es in jedem Leben Schicksalsschläge gibt und wir damit umgehen müssen.
Niemand nimmt es uns ab, uns um unser eigenes Leben zu kümmern. Wenn uns aber etwas Schlimmes heimsucht, dann wollen wir, dass uns jemand wenigstens einen Teil der Folgen abnimmt. Dafür brauchen wir Schuldige. Denn es ist einfacher zu sagen: „Du bist Schuld, also leiste Wiedergutmachung“ als „Mir ist etwas schlimmes geschehen, kannst du mir bitte helfen.“
Am schwersten ist es, zu sagen: „Okay, das ist mir jetzt passiert. Ich halte mich nicht lange damit auf, mich mit Schuldigen zu zanken, ich packe es an, diesen Schutthaufen beiseitezuräumen." Denn der Schutthaufen liegt schließlich in meinem Leben und niemand wird so viel Interesse daran haben, den wegzuschaffen, wie ich selbst. So eine Haltung bedeutet, selbst die Verantwortung zu übernehmen.
In dem Wort Verantwortung ist das Wort Antwort enthalten. Wir müssen immer selbst die Antwort auf das geben, was in unserem Leben passiert. Und: Das Leben ist nicht gerecht. Das war es noch nie, für niemanden. Global gesehen haben wir auf dieser Welt überhaupt auf gar nichts ein Recht.
Klar ist das furchtbar, wenn ich einen Nachteil erdulden muss, während andere diesen Nachteil nicht haben. Oder wenn ich das Gefühl habe, jemand fügt mir willkürlich einen Nachteil zu. Aber auch dann bin ich selbst dafür verantwortlich, was ich daraus mache. Ich muss das nicht hinnehmen. Aber ich muss besonnen sein. Der Affekt, der Hass, der Extremismus führt mich nicht aus meinem Problem heraus, sondern nur tiefer hinein. In der Opferrolle zu verharren und das Anklagen zur Hauptgesinnung zu machen, macht vor allem eins: mich krank!
Das Unfassbare fassbar machen
Krisen und große Veränderungen, die bei ihrem Auftreten zunächst so erscheinen, als wären sie nicht zu bewältigen, lösen große Verunsicherung, Ängste und Gefühle von Hilflosigkeit aus. Wir haben das alle in der einen oder anderen Form erlebt, als wir merkten, dass Corona nicht einfach nur irgendeine interessante Nachricht aus China ist. Jeder von uns durchlief einen inneren Prozess mit stark wechselnden Gefühlen, einer Achterbahnfahrt der Nachrichten und Einschätzungen und auch einem merkwürdig irrationalen Gefühl – denn man spürt ja nichts! Die Welt ist wie immer, es ist Frühling geworden, die Vögel singen – da war kein Erdbeben, kein Tsunami – nix! Das ist extrem verunsichernd. Da ist ein Feind, den wir nicht sehen, nicht fühlen – vielleicht gibt es ihn ja gar nicht?
Das weckt alles Gefühle, die sehr schwer zu ertragen sind. Hinzu kommen Veränderungen im täglichen Leben, die uns echte Sorgen machen. Verzweifelt versuchen wir – mehr oder weniger bewusst – in dieser chaotischen Lage unser seelisches Gleichgewicht wiederherzustellen. Es entsteht ein starkes Bedürfnis, unsere kaum greifbaren Gefühle an irgendetwas Konkretem festzumachen. So etwas Konkretes kann ein Feindbild sein, ein Schuldiger oder eine Gruppe von Schuldigen.
Tatsächlich entlastet uns ein (echter oder vermeintlicher) Feind sofort. Wir können Wut und Verzweiflung auf ihn richten, quasi mit dem Säbelzahntiger kämpfen, anstatt nur wie ein verschrecktes Kaninchen zitternd dazusitzen und auf den Nackenbiss zu warten.
Psychologen und Neurologen wissen, dass es ein sehr typisches und von der Evolution angelegtes Verhalten ist, sich bei Angst vehement zu wehren, also in Aggression auszubrechen. Diese Aggressionen helfen dabei, über uns selbst hinauszuwachsen und den Säbelzahntiger womöglich doch in die Flucht zu schlagen. Aber was tun, wenn kein Tiger, also kein Feind da ist? Ganz klar: Wir suchen uns einen Feind und finden auch einen.
Und da wir die vermeintlich Verantwortlichen in unserer heutigen Kultur nur in Ausnahmefällen verprügeln können, liefern wir uns verbale Schlachten. Wenn der Feind, endlich mit diesem oder jenem Verhalten aufhören würde, dann wäre das gesamte Problem gelöst! - Glauben wir. Weil uns das vorübergehend entlastet.
Die Spannung zwischen den Extremen
Die verwirrende Menge an Informationen und Unwägbarkeiten der Krise wird auf die überschaubare Einteilung von Feind und Freund reduziert. Das erzeugt Sicherheit und enthebt uns der Verantwortung, selbst Erfahrungen zu machen, uns selbst klare Informationen zu beschaffen und selbst Entscheidungen zu treffen. Wir bleiben in einer Distanz zum Problem und von dort aus zeigen wir auf die Schuldigen.
Denn was wir nicht ertragen können, sind Ambivalenzen. Wir möchten Eindeutigkeit. Nur: echte Probleme fordern uns immer dazu heraus, die Spannung zwischen zwei Extremen zu ertragen. DAS ist das eigentliche Problem. Nicht nur die Lösung des Problems ist die große Aufgabe, sondern auf dem Weg zur Lösung die Ambivalenz auszuhalten. Jede Seite der Krise (und je größer die Krise, desto vielfältiger die „Lager“ der Meinungen und Schuldzuweisungen) hat zu einem Teil Recht und zu einem anderen Teil Unrecht. Es gibt niemanden, der in keiner Weise Recht hat und niemanden, der in jeder Hinsicht Recht hat.
Die eigentliche Aufgabe zur Rettung unserer Seele und zur Lösung des Problems, ist eigenverantwortlich zu sortieren, welche Argumente und welche Lösungsvorschläge – egal aus welchem Lager – zielführend sind. Es ist nicht unsere Aufgabe, uns einem Lager zu verschreiben und dann da, komme was wolle, alle vorhandenen Standpunkte zu verteidigen. Wir müssen die Ambivalenz als gegebene Größe hinnehmen und uns darin gleichsam atmend einrichten.
Schuld auflösen
In England gibt es eine nette Verhaltensweise: Egal wer auf der Straße wen anrempelt – es entschuldigen sich immer beide!
Wenn wir damit aufhören können, uns in der Schuldfrage aufzureiben, dann sind wir den Lösungen um einen riesigen Sprung näher. Sich gegenseitig zu beschuldigen, hält alle Beteiligten davon ab, die Lage zu verbessern. Und es ist egal, ob es sich dabei um zwei streitende Kinder im Sandkasten, um eine Scheidung, um die drohende Klimakatastrophe oder um eine Pandemie handelt.
Es ist ja absolut sinnvoll, Verursacher für Probleme ausfindig zu machen. Es ist aber nicht sinnvoll, auch die komplette Lösung diesen Verursachern unterzuschieben, ihnen generell Vorsatz zu unterstellen und nach Vergeltung zu brüllen. Denn sobald es Betroffene gibt, ist an der Problemlösung eine Gruppe beteiligt. Das ist nicht gerecht (oder vielleicht in einer höheren Dimension doch?) aber darum geht es nicht. Es geht um die Lösung. Und die Frage, die sich jeder von uns ganz persönlich stellen muss ist: Was ist mein eigenes, bestmögliches Verhalten in dieser Krise? Mit welchen Taten und Unterlassungen kann ich jetzt die größte Menge Gutes generieren? Wie kann ich persönlich die meiste Verantwortung auf dem Lösungsweg übernehmen? Mehr können wir sowieso nicht. Wir können immer nur für unser eigenes Tun einstehen.
Im Strafrecht bedeutet Schuld die "Vorwerfbarkeit vorsätzlichen oder fahrlässigen Verhaltens". Und egal, was andere gemacht haben oder noch machen werden - ich kann mir nur selbst die Frage stellen: Mache ich irgendetwas in vorsätzlicher oder fahrlässiger Weise, was Schlechtes generiert, was den Konflikt anheizt, was eigentlich nur dazu da ist, dass ich mein Mütchen kühle?
Das ist unbequem. Die besten Lösungen sind eigentlich immer unbequem, weil sie uns zu Bewegung, zu Flexibilität, Anpassung und Kreativität aufrufen. Vor allem rufen sie uns dazu auf, einfach nur für uns selbst einzustehen. Ja, mir hat jemand geschadet, ja das war ungerecht, was mache ich jetzt daraus?
Dämonen und Helden
Wenn wir den Großteil unseres Handelns und unsere Sinne darauf ausrichten, Schuldige anzuklagen, dann stellen wir diejenigen, die (wirklich oder vermeintlich) Schlechtes in der Welt generieren, in den Mittelpunkt. Mit jedem neuen Beweis den wir anführen, mit jeder neuen Variante von Anklage, mit jedem Wiederanführen von Schäden, Schmerz und Angst füttern wir den Dämon! Und wenn er so gut gefüttert wird, dann wächst er und wird mächtiger. Deshalb gewinnt immer der Dämon, den wir füttern!
Aber sollen wir uns denn gar nicht wehren?
Sich „wehren“ ist ein Begriff, der in der Phase des Affekts einzuordnen ist. Wer sich wehrt, der befindet sich noch in den Fängen des Angreifers. Wie besonnen kann man in dieser Situation sein?
Lösungen finden wir nicht im Affekt – es sei denn, die Lösung ist so etwas wie Lynchjustiz – also letztendlich nur eine endlose Schleife von Hass und Rache.
Die Suche nach Schuldigen aufzugeben, bedeutet nicht, die Verursacher „ungestraft davonkommen“ zu lassen. Es bedeutet, ihren Einfluss auf das eigene Leben abzuwenden und einen freien Raum in der eigenen Seele zu erschaffen, mit dem wir Lösungen finden können. Das Herbeiführen von echten Lösungen bedeutet den Fall der Schuldigen und/oder das Neutralisieren der Ursache.
Die Lüge gewinnt immer nur den Sprint, die Wahrheit gewinnt den Marathon. Darauf können wir uns verlassen. Aber dafür müssen wir auch die Nerven haben. Und die schonen und stärken wir durch ruhiges Atmen, Freundlichkeit und Besonnenheit im Handeln. Lösungen und den Weg dorthin finden wir über einen kühlen Kopf, über Analyse des Geschehens, eine Basis aus überprüfbarer Wahrheit und über Beharrlichkeit. Die Helden sind immer cool! Und idealerweise begeben wir uns nicht auf die Suche nach einem coolen Helden, um ihm zu folgen, sondern verhalten uns selbst wie coole Helden.
Bleibt gesund - und klar im Kopf!