Salutogenese und Ratgeber
Kannst du mir mal einen Rat geben?
Diesen Satz hören wir doch eigentlich gerne, oder? Wir mögen es, wenn wir freundlich um Rat gebeten werden. Denn das zeigt, dass uns jemand als kompetent und vertrauenswürdig ansieht.
Umgekehrt fällt es uns aber nicht so oft ein, jemanden um Rat zu bitten. Da fragen wir lieber Google - meist aber mit einem ziemlich unbefriedigenden Ergebnis. Denn Internet-Suchmaschinen bieten uns nur das untere Mittelmaß und die Extreme von allen möglichen Themen an. Google weiß nicht, wie Du wirklich tickst, was Deine Talente und Fähigkeiten sind und was Dir schwerfällt. Google weiß höchstens, dass Du letzte Woche nach einem neuen Staubsauger gesucht hast.
Mensch versus Suchmaschine
Das Tolle an echten menschlichen Ratgebern ist, dass sie eben keine Experten für Dein aktuelles Problem (oder für Staubsauger) sind. Sie wissen aber, was Du für Bedürfnisse hast, womit Du klarkommst und womit nicht, was zu Dir passt und was Dir gefällt. Und dann haben sie auch noch diese wunderbaren eigenen Ideen, an die Du selber noch gar nicht gedacht hast!
Rat suchen verbindet
Man kann zusammensitzen, Kaffee trinken, sich beraten, sich dabei nett angrinsen, das Wohlwollen des anderen spüren – und Mensch sein.
Warum tun wir das so selten?
Wer Rat sucht, zeigt Schwäche
Jedenfalls glauben wir das und es erscheint uns so. Das ist wieder eine dieser Fallen, in die wir hineintappen, wenn wir nicht in Ruhe atmend nachdenken. Denn Rat zu suchen ist ein Zeichen von Stärke und Selbstbewusstsein.
Wer sich über sich selbst bewusst ist, der weiß, was er kann und was er nicht kann. Niemand kann alles und niemand weiß alles. Und vor allem ist niemand als Experte auf die Welt gekommen. Experten werde wir nur dadurch, dass wir lernen und uns Rat holen – egal worum es geht.
Der Klügere holt Rat
Beraten zu werden bedeutet, dass es in einer Sache weiter geht. Hinterher ist unsere gedankliche Lage eine andere als vorher. Wir haben eine größere Entscheidungsgrundlage und mehr Auswahlmöglichkeiten, was der nächste Schritt sein könnte.
Sich in schwierigen Situationen keinen Rat zu holen, bedeutet oft Stillstand. Wir verharren in einem Konflikt, einer ungelösten Situation und damit auch in einer Form von Leiden. Sei es Stress, Druck, Angst oder Kummer.
Stuck state – das Brett vor dem Kopf
Rat brauchen wir immer dann, wenn wir das Gefühl haben, es geht nicht weiter. Entweder uns fehlt bestimmtes Wissen, um ein Problem zu lösen, oder wir sind psychisch in einen so genannten „stuck state“ geraten – eine Situation in der wir so unter Stress geraten sind, dass wir nicht mehr frei und flexibel handeln können und uns in einem energiezehrenden Gedankenkarussell befinden.
Wenn Stress – also auch Kummer, Streit, Wut oder Verletzung – eine bestimmte Grenze überschreitet, verlieren wir den Zugang zu unseren Ressourcen und werden handlungsunfähig. Wir haben das Gefühl: Egal was ich mache, es ist verkehrt. Im günstigsten Fall wissen wir, dass die Lösung irgendwo vorhanden ist, wir sie nur nicht sehen können. Im ungünstigsten Fall verlieren wir die Hoffnung und geraten in eine Depression.
Dies sind Momente, in denen wir Rat suchen sollten.
Wovor wir uns fürchten
Wenn wir jemanden in einer wichtigen Angelegenheit, einer Herzenssache, um Rat fragen, dann öffnen wir verschiedene Kerben, in die der andere hineinschlagen könnte. Wir bieten zum Beispiel die Möglichkeit an, beurteilt zu werden. Oder wir fürchten, dass derjenige anderen etwas weitererzählt, was wir ihm im Vertrauen offenbaren müssen, um den benötigten Rat zu bekommen. Es könnte auch sein, dass wir an Ansehen verlieren, uns Kompetenz abgesprochen wird oder andere über uns triumphieren, wenn sie erfahren, dass wir in einer Hilflosigkeit sind.
Stolz und Einsamkeit
Oft sind wir zu stolz um uns Rat zu suchen. Je persönlicher das Problem, je größer die eigenen Fehler, die wir meinen gemacht zu haben, je tiefer die Verletzung durch andere, desto weniger möchten wir uns jemandem anvertrauen.
Viele Menschen sind sorgsam darauf bedacht, niemals hilflos und immer eigenständig zu erscheinen. Rat suchen sie sich allenfalls bei Experten, idealerweise gegen Bezahlung.
Aber wie ist die Seele eines Menschen beschaffen, der andere nicht um Rat fragen kann? Wie groß muss die Einsamkeit eines Menschen sein, der sich mit seinen Fragen niemandem auf Augenhöhe anvertraut?
Stolz und Einsamkeit haben mit Scham zu tun. Wer sich für eine Hilflosigkeit schämt, sie als demütigend oder gar bedrohlich empfindet, der hat ein wirklich großes Problem. Aber je kompetenter und angreifbarer wir in unserem Leben dastehen, desto schneller geraten wir in diese Haltung, besser niemandem zu offenbaren, dass wir einen Rat benötigen.
Dem sollten wir rechtzeitig entgegenhalten, in dem wir schon bei den kleinen „Katastrophen“ im Leben üben, uns Ratgeber zu suchen, Rat anzunehmen und mit Rat umzugehen.
Wen soll ich um Rat fragen?
Damit sich die oben genannten Befürchtungen nicht bewahrheiten, ist der erste kluge Schritt, uns unsere Ratgeber sorgfältig auszusuchen. Wir brauchen eine Person, die einerseits eine gewisse Kompetenz besitzt, was das Thema unseres Problems betrifft und von der wir andererseits eine verständnisvolle und wohlwollende Haltung erwarten.
Nicht selten gehen wir den wirklich kompetenten Ratgebern aus dem Weg, weil wir schon ahnen, was für einen Rat sie uns geben werden und wir diesen Rat nicht hören wollen. Da wenden wir uns lieber an eine Person, die uns selbst ähnlich ist.
Wenn zum Beispiel jemand ein gesundheitliches Problem hat, dann kann es sein, dass er nicht zu einem kompetenten Ratgeber geht, weil er eigentlich schon weiß, dass dessen Rat auf weniger Essen, weniger Alkohol und mehr Bewegung hinauslaufen wird.
Deshalb ist es einfacher, einer Person sein Leid zu klagen, die selber auch keinen Sport macht, übergewichtig und kurzatmig ist. Aber welcher Rat ist dann dort zu erwarten?
Suche ich Rat oder Bestätigung?
Du merkst beim Lesen dieser Überschrift schon, wie der Hase läuft, oder? Es ist nämlich ein großer Unterschied, ob ich nur will, dass mir jemand Mitgefühl entgegenbringt – was absolut wichtig und berechtigt ist! – oder ob ich wirklich ein Problem lösen und in meinem Leben vorankommen will.
Idealerweise finden wir beides bei einem Ratgeber. Die meisten Menschen um uns herum sind keine idealen Persönlichkeiten – so wie wir selber auch nicht. Und wem wir vertrauen, der ist nicht immer auch kompetent und umgekehrt.
Woran erkenne ich gute Ratgeber?
Grundsätzlich sind gute Ratgeber Menschen, die auch selbst gut Rat annehmen können. Wer völlig frei erzählt, dass er sich bei einem Problem oder einer Frage Hilfe geholt hat oder einen guten Rat bekommen hat, kann sich meist auch prima in einen Ratsuchenden einfühlen.
Gute Ratgeber besitzen die Fähigkeit, jedes Problem in seinem ganz individuellen Umfeld zu betrachten. Es gilt ja nicht, immer die idealste denkbare Lösung zu finden, sondern die persönliche Lösung des Ratsuchenden mit all den dazugehörigen Aspekten.
Ein guter Ratgeber bietet auch nicht sofort Lösungen an, sondern fragt erst einmal eine Weile oder lässt sich die Lage erörtern. Er spürt gleichsam das Spannungsfeld auf, in dem sich der Ratsuchende befindet. Das heißt, dass sich ein guter Ratgeber gar nicht unter Druck fühlt, das Problem des anderen zu lösen, sondern den anderen ein Stück auf seinem Lösungsweg zu begleiten.
Es ist nicht immer leicht, jemanden zu finden, der so viel Weisheit besitzt. Denn gerade die weisen Menschen drängen sich ja nicht in den Vordergrund und lassen ihre Ratgeber-Kompetenz überall heraushängen. Sie suchen keine Bestätigung indem sie sich anbieten und berichten, was sie für kluge Ratgeber sind und wen sie schon alles beraten haben.
Deshalb sollten wir uns, auf der Suche nach einem Ratgeber, lieber nach Menschen umsehen, die das, was wir gerade nicht gut können, ganz gut hinbekommen. Schau Dir das Leben Deiner potenziellen Ratgeber an. Wer Rat sucht und Rat gibt, der entwickelt sich weiter und führt ein sinnerfülltes Leben.
Welche Menschen sind eher schlechte Ratgeber?
Ganz klar: diejenigen, die häufig Rat geben, ohne danach gefragt worden zu sein und die selber nie um Rat fragen. Menschen, die immer erst dann über ihre Probleme reden, wenn sie sie schon gelöst haben (oder das zumindest glauben oder behaupten), werden ihren Rat sehr wahrscheinlich nicht im Sinne des Ratsuchenden geben, sondern hauptsächlich versuchen, sich selber darzustellen.
Auch Menschen, die immer wieder ungefragt Themen zur Sprache bringen, in denen sie meinen, sich besonders gut auszukennen, sind eher schlechte Ratgeber. Denn wer wirklich in einer Sache kompetent ist, der muss da nicht dauernd drüber reden oder beim kleinsten Anlass betonten, dass er sich mit diesem Thema besonders gut auskennt.
Ein schlechter Ratgeber reißt Dein Problem möglicherweise auch komplett an sich, macht Dir einen ausführlichen Lösungsplan, zählt Dir auf, was Du bisher alles vollkommen falsch gemacht hast und erwartet anschließend, dass Du alles so machst, wie er es sagt.
Du kannst, wenn Du Dir nicht sicher bist, auch bei verschiedenen Personen einen kleinen Testballon starten. Frage einfach um einen Rat der nicht so persönlich, nicht so entscheidend oder brisant ist. Schau, welche Reaktionen Du bekommst und schau vor allem, wie Du dich während und nach der Beratung fühlst.
Rat kann man annehmen – oder auch nicht!
Eine große Hemmschwelle bei der Suche nach Rat ist ja, dass wir uns damit schwertun, einen Rat, den wir erhalten haben, nicht zu befolgen. Wir wollen ja unsere Dankbarkeit zeigen und den anderen nicht enttäuschen.
Manchmal fürchten wir, dass eine erwünschte Beziehung sich lockert, wenn wir einen gegebenen Rat nicht befolgen. Oder wir fürchten, dass derjenige immer wieder fragt, ob man denn jetzt seine Empfehlung schon umgesetzt hat, oder bei einem Misserfolg später sagt: „Du wolltest ja nicht auf mich hören!“
Aber auch für diese Befürchtungen gibt es eine Lösung. Denn der Ratgebende will ja gar nicht, dass wir wie so ein Befehlsempfänger machen, was er vorschlägt. Das wäre ja auch ein bisschen viel Verantwortung. Er will einfach nur, dass sein Rat aufmerksam angehört, überdacht und respektiert wird. Und das ist ja überhaupt kein Problem.
Man kann auch einen Rat, dem man nicht vollumfänglich folgt, in seine Entscheidungen und Pläne einfließen lassen. Oder man kann durch einen Rat auf einen weiteren Gedanken kommen, den man vorher gar nicht hatte. Man kann auch erkennen, dass der Rat gutwillig gegeben wurde, aber für einen selbst gerade nicht sinnvoll ist.
Und das darf man dann auch dankbar zurückmelden. „Ich fand das wirklich gut, was du gesagt hast. Als ich darüber nachgedacht habe, bin ich auf eine neue Idee gekommen…“. Das ist eine schöne Resonanz für einen Ratgeber.
Gegenseitiger Rat lässt Freundschaft wachsen
Freundschaft kennzeichnet sich durch Geheimnisse, die man miteinander teilt. Sich jemandem anzuvertrauen, generiert und stärkt Freundschaft. Niemand braucht einen Freund, der vorgibt, mit allen Wendungen des Lebens fertig zu werden und der nie um Rat oder Hilfe fragt.
Um Rat zu fragen ist ein Vertrauensvorschuss. Freundschaft entsteht oder vertieft sich dann, wenn der andere auf Augenhöhe bleibt und versucht, das angebotene Problem „in den Schuhen des anderen“ zu lösen.
Überlegenheit neutralisiert Sympathie
Es gibt Menschen, die antworten Ratsuchenden mit „Damit habe ich ja überhaupt kein Problem!“ Na toll! Danke! Das ist genau das, was ein Ratsuchender oder ein Mensch in einer Problemsituation braucht!
Denn um wen geht es? Wenn jemand um Rat oder Hilfe bittet und der andere setzt dann erstmal sich selbst in den Fokus, dann fließt die komplette Energie aus der Situation. Als würde man aus einem Ballon die Luft herauslassen.
Zuerst ist es für den Ratsuchenden frustrierend. Kommt es öfter vor, wird es langweilig und man fragt lieber jemand anderen.
Letztendlich kennen wir ja alle unsere Pappenheimer und wissen, wen wir besser nicht um Rat fragen und wer uns wirklich helfen könnte.
Also - egal was Dich heute bedrückt oder verfolgt, was Dir Rätsel aufgibt oder Dich vor eine Entscheidung stellt: Hol Dir doch einfach mal wieder Rat von einem realen Menschen! Du wirst sehen, dass es Dich auf jeden Fall in irgendeiner Weise weiter bringt.